Hilfe nicht erwünscht

Der Winter ist für Obdachlose eine harte Zeit. Nicht alle Menschen, die auf der Straße leben, suchen Asyl. Um die, die auch bei Minusgraden auf der Straße bleiben, kümmern sich in Köln “Kältegänger”.

Welt am Sonntag, 20. Januar 2013

Der Mann ist gut organisiert. Sein Leben ist verpackt in Plastiktüten, sauber aufgereiht stehen sie unter dem Vordach eines Schuhgeschäfts in der Kölner Innenstadt. Er öffnet eine Tüte: ein Schoko-Weihnachtsmann, Brötchen, Aufschnitt in Dosen. “Das ist die Küche”, sagt er. Sein Name: Michael. Sein Alter: 58.

Seit Jahren ist er obdachlos. Er trägt einen weißen Rauschebart, er riecht nach Schnaps. Das Leben auf der Straße hat ihn gezeichnet, sein Gesicht ist von Falten zerfurcht.

Es ist ein Donnerstagabend gegen neun Uhr, der Schuhladen hat geschlossen. Michael darf sein Nachtquartier vor dem Eingang wieder beziehen, das er tagsüber räumen muss, um die Kunden nicht zu vergraulen. Schutz vor der Kälte bietet es kaum. Die Wollmütze hat Michael fast über die Augen gezogen. Er kneift die Lider zu, wenn ein Windstoß über sein Gesicht streicht. Er zieht mehrere Pullover übereinander, bevor er in seinen Schlafsack kriecht. “Ich komme gut zurecht hier”, sagt er.

Bei der Kälte? Thore Klahr kann es nicht glauben. Der 42-Jährige hat sich vor Michael hingehockt. “Überleg mal, es kann noch kälter werden”, sagt er. Klahr ist Sozialarbeiter beim Johanneshaus, einem Obdachlosenasyl in Köln. Es hat sogar mehr zu bieten als ein warmes Bett. “Du kannst auch duschen, zum Arzt gehen, gebrauchte Kleider mitnehmen”, sagt Klahr. Doch Michael zögert.

Im Winter ist schnelle Hilfe gefragt

Thore Klahr ist unterwegs mit seiner Kollegin Inga Simons, 31. Tagsüber arbeiten beide in der Resozialisierungsabteilung des Johanneshauses. Sie helfen Obdachlosen, in ein normaleres Leben zurückzufinden. Ein langwieriger Prozess.

Wenn im Winter die Temperatur unter null Grad fällt, ist dagegen schnelle Hilfe gefragt. Dann steigen Klahr und Simons in die U-Bahn und brechen zum Rundgang auf. Kältegang heißt das.

Die Sozialarbeiter wollen die Obdachlosen überzeugen, in städtische Notschlafstellen zu gehen. Denn die Kälte kann für Menschen auf der Straße lebensgefährlich werden. Bei ihrer Tour klappern die Kältegänger U-Bahn-Stationen, Tunnel und Brücken ab – aber auch belebte Plätze wie die Hohe Straße, in der Michael seinen Unterschlupf gefunden hat.

Irgendwo findest du immer einen Platz

Der lässt sich nicht zum Umzug bewegen. Thore Klahr bleibt nichts übrig, als ihm einen Flyer in die Hand zu drücken, auf dem die Hilfsangebote erläutert werden. Der Obdachlose winkt ab. “Ich habe schon von so vielen Einrichtungen Zettel bekommen”, sagt er, “aber die lassen dann nur sechs oder acht Leute da schlafen.”

Klahr weiß es besser: Irgendwo finde sich immer ein Platz, sagt er später. Die Stadt halte genug Betten bereit. Deshalb lässt er nicht locker: “Sprich einfach mal bei der Fachstelle Wohnen vor, die kann dir für eine Zeit lang ein Hotelzimmer vermitteln. Dann kommst du wenigstens mal wieder zur Ruhe.”

Für Michael ist das kein Argument: “Ach, wir haben doch unsere Ruhe hier.” “Schläft man auf der Straße ruhig?”, fragt Klahr, es ist sein letzter Versuch. “Naja”, sagt Michael. Doch er will nicht.

Rückschläge sind Arbeitsalltag

Klahr und Simons ziehen weiter. Sie müssen mit Rückschlägen klarkommen. “Wenn von zehn Leuten einer bei uns aufläuft, haben wir einen guten Job gemacht”, sagt Simons. Der Gang ins Obdachlosenasyl – für viele Menschen, die auf der Straße leben, ist selbst diese scheinbar niedrige Hürde zu hoch.

“Wer zu uns kommt, muss sich ein Stück weit nackig machen”, erläutert Simons. “Wenn er unsere Hilfe in Anspruch nehmen will, fordern wir ihn auf zu erzählen, wie er in diese Lage gekommen ist. Doch das wollen viele nicht.” So leben auch an den kältesten Wintertagen in Köln noch geschätzte 50 Obdachlose auf der Straße, bei denen die Kältegänger meist abblitzen.

Mehrere Organisationen wechseln sich mit dem Johanneshaus beim Rundgang ab. Auch in den anderen großen Städten gibt es solche Touren, teilweise sind Ordnungsamt und Polizei zuständig. Es geht schlicht darum, die Menschen vor dem Tod zu bewahren: Anfang November erfror ein Obdachloser in Rostock. Im vorigen Winter fielen mindestens zwei Obdachlose der Kälte zum Opfer, zwei weitere starben, als sie sich an einem Feuer wärmen wollten – einer davon in Köln.

Das Ordnungsamt ist der Weckdienst

Die nächste Station für Thore Klahr und Inga Simons ist die Domplatte. Vor einem Schaufenster kauert Mechthild. Sie hat sich in eine grüne Wolldecke gehüllt. Mit zitternden Fingern zupft sie die Decke zurecht. Klahr und Simons knien sich hin, gehen auf Augenhöhe. “Wie lebst du denn hier?”, fragt der Sozialarbeiter. “Manchmal schlafe ich bei ‘nem Kollegen. Meist aber da hinten, am Museum”, sagt Mechthild. Das Sprechen macht ihr Mühe. “Natürlich ist das unbequem. Morgens um sieben kommt das Ordnungsamt und schickt mich weg. Sieht blöd aus, wenn das Museum auf hat und da ein Penner liegt.”

Klahr bietet auch ihr an, ins Johanneshaus zu kommen. Die Unterkunft hat zwei Zimmer für Obdachlose mit Hund. Doch den Weg zur Einrichtung in der Südstadt kennt Mechthild nicht, sie weiß nur in der Innenstadt Bescheid. Hier ist sie gelandet, nachdem sie über Jahre durch deutsche Großstädte gezogen ist. “Treffen wir uns morgen um zwölf Uhr wieder, genau hier”, sagt Klahr. Mechthild nickt. “Finde ich super.” Am nächsten Tag wird Klahr zur verabredeten Zeit zurückkommen. Mechthild ist nicht da.

Angst vor geschlossenen Räumen

Warum sie es sich anders überlegt hat? Solchen Fragen geht die Ärztin Jenny de la Torre nach. Sie hat in Berlin ein Zentrum für Obdachlose gegründet. “Wer sich jahrelang an das Leben draußen gewöhnen musste, bekommt in geschlossenen Räumen oft klaustrophobische Zustände”, sagt Torre.

Die beiden Kältegänger fahren mit der U-Bahn zum Ebertplatz. An einem Aufgang steigt warme Luft auf. Hier sitzt Eva, 18 Jahre, um sie herum sieben Jungs gleichen Alters. Die junge Frau hat Piercings im Gesicht, kurze Haare, vor ihr steht eine Flasche Korn. Unter der Latzhose wölbt sich der Bauch – Eva ist im neunten Monat schwanger. Bald soll sie in ein Mutter-Kind-Heim kommen. Doch die Sozialarbeiter machen sich Sorgen, dass sie dort abhauen oder gar nicht erst hingehen könnte. Klahr schlägt Eva vor, ins Elisabeth-Frey-Haus zu gehen, eine Schlafstelle für Frauen. “Da war ich schon”, sagt Eva, “da bin ich rausgeflogen, weil ich nachts zu spät wiedergekommen bin.”