Seit zwei Jahren läuft der NSU-Prozess in München, seit zwei Jahren sitzen Dutzende Journalisten im Gerichtssaal. Prozesstag für Prozesstag. Unter ihnen: Tom Sundermann. Bei 140 der gut 200 Verhandlungstage war er dabei. Ein Bericht aus einem Arbeitsleben zwischen Antworten und Anfeindungen.
Journalist, Mai 2015
Credit Image: © Roger Harvey/Globe Photos/ZUMAPRESS.com[/caption] „Nicht erschrecken, ich fasse Ihnen jetzt noch in den Schritt“, sagte der Polizist. Es war einer der ersten Tage im NSU-Prozess, die Sicherheitskontrollen waren besonders rigide. Der Weg zur Arbeit verläuft für die meisten so: Tiefgarage, Aufzug, Schreibtisch. Für mich heißt es seit zwei Jahren: Metalldetektor, Taschenkontrolle, Leibesvisitation.
Der Polizist griff beherzt zu.
Vor dem Oberlandesgericht München tagt der Prozess um den Nationalsozialistischen Untergrund (NSU), dem zehn Morde und zwei Sprengstoffanschläge zugeschrieben werden. Auf der Anklagebank sitzen die schweigende Beate Zschäpe und vier mutmaßliche Helfer der Terrorzelle. Die Dimension dieses Verbrechens, mit seinen zerstörten Schicksalen und den üblen Verfehlungen der Ermittler, ist bis heute schwer zu fassen. Wir, die Journalisten im Prozess, müssen darum dasselbe leisten wie die Richter: den komplexen Stoff strukturieren, Beweise einordnen, Hintergründe durchleuchten.
Das tun wir, beharrlich, seit das Verfahren am 6. Mai 2013 begann – auch, wenn das größte Verfahren gegen Rechtsterrorismus in der deutschen Geschichte es nur noch selten auf die vorderen Seiten der Zeitungen schafft. Lange vergessen ist der Tumult um die Verlosung der 50 Journalistenplätze auf der Tribüne über dem Gerichtssaal A101 im Strafjustizzentrum. Die Empörung darüber hat die unsägliche Bigotterie mancher großer Medien entlarvt: Die Pressefreiheit geht unter, wenn wir keinen Sitzplatz bekommen! Nun, da mangels Besucherandrang genug Plätze zur Verfügung stehen, lassen sie sich kaum noch blicken.
Eine Woche vor Prozessbeginn war ich im Baumarkt, Schrauben kaufen, als ein Notar das Los mit meinem Namen zog. Ich hatte die Ziehung vergessen, weil ich mir ohnehin keine Chancen ausgerechnet hatte. Ein Dauerstrom aus Mails und Anrufen begann, teils Interviewanfragen, teils Auftragsangebote. Ich war einer von vier freien Journalisten mit persönlicher Platzreservierung. Ich einigte mich mit Zeit Online, deren Redaktion sich auf einen Platz beworben, aber keinen bekommen hatte. Bis heute berichte ich mehrmals im Monat für das NSU-Prozess-Blog auf der Seite. Mein Kapital ist mittlerweile nicht mehr die Reservierung, sondern das Wissen aus zwei Jahren Prozessgeschehen.
Auf die Verlosung folgte eine Woche Ausnahmezustand. Denn während Deutschland wartete, was Sundermann zu berichten hat, setzte ich mich hin und büffelte: die Chronologie der einzelnen Delikte, die Namen der Unterstützer, die Akteure im Gerichtssaal. Man merkt, dass man die Karrierechance seines Lebens vor sich hat, wenn die Arbeit brockenweise auf den Schreibtisch kracht.
Als ich das erste Mal von Köln nach München flog, war ich elektrisiert. Vor dem Gerichtseingang quetschten sich Zuschauer und Berichterstatter aneinander. Im Saal kapitulierte die Klimaanlage vor dem Sommerwetter und der Menschenmenge. Im schwarzen Hosenanzug trat Beate Zschäpe durch eine Tür, das Mädchen aus Jena, das sich in den 90er Jahren zur Rechtsextremen gewandelt hatte. Und auch zur Terroristin? Ich sitze oben in den ockerfarbenen Sitzreihen, weil ich die Verbrechen verstehen will, die ihr vorgeworfen werden.
Man hilft sich, über Mediengrenzen hinweg
Eintauchen in den Mikrokosmos NSU-Prozess: Über die Monate schleift sich ein weitgehend gleicher Kollegenkreis ein. In der Regel sind drei Termine pro Woche angesetzt. Die Abdeckung ist, trotz nachlassender Aufmerksamkeit, immer noch sehr gut. Regelmäßig berichten unter anderem der Tagesspiegel, die Süddeutsche Zeitung, der Spiegel, der Bayerische Rundfunk, die Thüringer Allgemeine und auch Zeit Online. Informationsaustausch ist Arbeitsalltag. Man hilft sich, über Mediengrenzen hinweg. Die Wachtmeister, für Ordnung im Saal zuständig, werden zu Duz-Kumpels.
Ein entscheidender Faktor sind die Anwälte der Nebenkläger. Mehr als 80 Verletzte und Hinterbliebene nehmen am Verfahren teil, sie werden von mehr als 60 Anwälten vertreten. Immer wieder tauchen deren Stellungnahmen in den Berichten auf. Dazu kommen Hintergrundgespräche, die in erheblichem Maße die Analyse des Prozessgeschehens mitprägen. Denn ausgebildete Juristen sitzen wenige auf der Pressetribüne – trotzdem sind immer wieder Einordnungen gefordert: Im Juli 2014 entzog etwa Beate Zschäpe ihren Anwälten das Vertrauen. Platzte nun der Prozess mangels einer funktionierenden Verteidigung? Signalisierte die Hauptangeklagte, dass sie doch aussagen will? Die Spekulationen kochten – medienwirksam – binnen Minuten hoch. Keine davon erfüllte sich.
Artikel, in denen Zschäpe im Mittelpunkt steht, verkaufen sich gut. Die Faszination des angeblich Bösen, konzentriert in der meist entspannt zurückgelehnten Angeklagten, wirkt. Hier im journalist wurde schon vor Verfahrensbeginn vor einem Hype um Zschäpe gewarnt.
Er ist eingetreten und hält an – obwohl alle Erkenntnisse über sie von Dritten kommen und mit fortschreitender Prozessdauer das gleiche Bild stützen. Auch ich schreibe gerne Zschäpe-Geschichten. Warum? Erstens, weil die Leser es goutieren. Zweitens, weil sie es ist, für die das Ermittlerversagen und die Hilfeleistungen mutmaßlicher Unterstützer letztlich relevant sind. Wenn etwa der Thüringer Neonazi und V-Mann Tino Brandt Zschäpe „keine dumme Hausfrau“ und ideologisch gefestigt nennt, ist das wichtig und transportiert das Porträt der Szene, in der sich das NSU-Trio radikalisierte.
Er brüllt seinen Schmerz durch den Saal
Struktur, Beweise, Hintergründe: Die Realität eines Strafverfahrens ist drastischer, als das klingt. Auf die Leinwände im Saal wird das Foto einer Frau projiziert, die beim ersten Bombenanschlag des NSU im Jahr 2001 fast bis zur Unkenntlichkeit verbrannt ist. Das Bild einer Autopsie, bei der man das Gehirn im Schädel eines Mordopfers sieht. Dann die Zeugen: Der Vater des in Kassel ermordeten Internetcafé-Betreibers Halit Yozgat wirft sich erst auf den Boden, später brüllt er seinen Schmerz durch den Saal.
Manche Prozessbeobachter räsonieren darüber, wie schwer solche Situationen zu ertragen seien. Für mich genügt der berufliche Blick auf dieses Leid als Dämpfer. Es wäre unehrlich, sich von der Tatsache überrascht zu geben, dass Terrorismus und seine Folgen grausam sind.
Nicht immer ist das, was sich im Saal abspielt, so plastisch. Es ist die entscheidende Herausforderung der Gerichtsberichterstattung, aus Zeugenaussagen und Dokumenten spannende Reportagen zu destillieren. Der Prozess ist voll damit. Das ist – neben seiner historischen Bedeutung – der Grund, wieso er sich überhaupt so lange in den Medien abbilden lässt.
Zu Beginn schrieb ich über die Schicksale der Opfer. Danach ging es um das Leben von Zschäpe und ihrer Komplizen Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt. Später folgte eine lange Phase, in der der Strafsenat um den Vorsitzenden Richter Manfred Götzl mutmaßliche Helfer aus der rechten Szene als Zeugen lud. In dieser Zeit arbeitete das Gericht die zentrale These zum Verständnis des Terrorkomplexes heraus: Der NSU konnte morden, weil er verschwiegene Helfer hatte – und weil Polizei und Verfassungsschutz wenig taten, um ihn aufzuhalten.
Die Klarsicht ist aufgeteilt in etliche Häppchen, Prozesstag für Prozesstag, Zeuge für Zeuge. Schon für mich ist es kompliziert genug, den Überblick über all die Handlungsstränge des NSU-Komplexes zu behalten. Wie soll das noch ein Leser verstehen? Lange Erklärungsabsätze, in denen die Verbindung zwischen dem Zeugen X und dem NSU-Trio hergestellt wird, sind unvermeidlich. Andernfalls würde ich Berichte über den Prozess zur geschlossenen Veranstaltung machen.
Die Diskussion in den Onlinekommentaren bestimmt ein fester Kern aus Lesern, die die Artikel zum Thema genauestens verfolgen – meist vor dem Hintergrund einer eindeutigen politischen Haltung. Der Prozess ist Projektionsfläche für Verschwörungstheorien jedweder Couleur. Mundlos und Böhnhardt seien Auftragskiller des Verfassungsschutzes, heißt es etwa, und nun versuche ein Zirkel der Macht, das Komplott unter der Decke zu halten – inklusive der deutschen Journalisten.
Die Auswüchse sind kurios. Vertreter eines sogenannten Arbeitskreises setzen sich in den Prozess, belauschen Privatgespräche unter uns Berichterstattern und stellen den Inhalt ins Netz. Auf Blogs tauchen Artikel auf, in denen ich als Lügner und Perversling dargestellt werde. Ich lache über Menschen, die ihre Lebenszeit investieren, um mich online zu diffamieren. Doch es geht schlimmer: Nach einer Zeugenvernehmung stand ein Zuschauer auf und raunte dem Kollegen einer ostdeutschen Zeitung dessen Privatadresse zu – anscheinend hatte man ihn ausspioniert.
Einschüchtern lässt sich niemand. Wer zwei Jahre in diesen Prozess gesteckt hat, hält ihn bis zum Ende durch. Zumal hinter dem Verfahren etliche Geschichten stecken, die noch nicht erzählt sind. Das liegt auch daran, dass die Verbindungen der Zwickauer Zelle in nahezu jeden Winkel Deutschlands reichen. Ich unterstütze immer wieder kleinere Redaktionen, für die sich ein eigener Korrespondent nicht rentiert. Für sie ist das Mammutverfahren die Möglichkeit, das Thema Rechtsextremismus zu thematisieren.
Dranbleiben
All die Geschichten bestimmen mein Arbeitsleben. Lange Zeit diktierten sie, wann ich zu pendeln hatte. Vor einem halben Jahr befreite ich mich davon und zog nach München. Für Gerichtsreporter ist die Stadt übrigens eine Hochburg: Verhandelt wurde hier kürzlich gegen Uli Hoeneß und Bernie Ecclestone, zudem laufen derzeit mehrere wichtige Islamistenprozesse.
„Wie lange dauert das denn noch?“ Diese Frage höre ich am häufigsten, neben „Und die sagt wirklich kein Wort?“ Termine sind derzeit bis Anfang 2016 angesetzt. Hinzu kommt, dass auf Empfehlung eines Psychiaters nur noch an zwei Tagen in der Woche verhandelt wird – aus Rücksicht auf die Gesundheit von Beate Zschäpe. Das wird das Verfahren noch weiter dehnen. Die Richter müssen bewerten, ob die teils dünne Indizienkette der Bundesanwaltschaft genügt, die fünf Angeklagten für schuldig an den Verbrechen des NSU zu erklären.
Die ganz großen Schlagzeilen produziert der Prozess erst wieder, wenn das Urteil fällt. Es wird ein extremer Kraftakt des Zusammenfassens, des Analysierens, des Kommentierens. Kein einzelner Berichterstatter wird alle Verstrickungen und entlarvenden Momente aus dem Verfahren zur großen Erkenntnis über den NSU verbinden können. Deshalb ist es so wichtig, dass viele Journalisten die Gerichtstermine verfolgen.
Und wie lautet das Urteil? Die Vorwürfe aus der Anklageschrift haben sich in weiten Teilen bestätigt. Allerdings haben Verteidiger mehrerer Angeklagter gut begründete Zweifel an einzelnen Punkten angemeldet. Den Richterspruch in den Medien prophetisch vorwegzunehmen, halte ich für sinnlos. Wichtiger ist, das Verfahren zuvor sauber zu dokumentieren. Zudem ist der Prozess für Vorahnungen viel zu wendungsreich. Dranbleiben lohnt sich.