Was muss einer erlebt haben, der sich fremden Männern am Bahnhof Zoo anbietet, nur um Zuneigung zu bekommen? Jörg S. hat sich als Junge prostituiert – aus einer kaputten Familie flüchtet er in die Welt hinter dem Bahnhof. Keine Praktik schlägt er seinen Freiern ab, ihm geht es nicht um Geld, sondern um Aufmerksamkeit. Andere Kinder gehen ins Kino oder Freibad, Jörg S. steigt zu den Männern ins Auto. Immer wieder, bis die Liebe ihn rettet – echte Liebe.
Motz (Berliner Straßenzeitung), 19. Dezember 2008

In der Welt aus bunten Plastiksteinchen und Spielzeugautos darf er Kind sein. Endlich, wenn er zurück ist vom Bahnhof, zurück von den Männern. Legosteine statt Tränen, er weint seit Jahren nicht mehr. Jörg S. ist 14 Jahre alt.
Das Spielzeug kauft er sich selbst, Geld hat er genug, auch für Klamotten, die neue Cordhose zum Beispiel. Das Geld bekommt er von den Männern, 50 Mark pro Nummer. Jörg S. verkauft seinen Körper.
„Ich habe mich ernst genommen gefühlt“
An die 30 Jahre ist das her. Mit 43 weiß Jörg S., dass ihn eine Sucht an den Bahnhof Zoo in Westberlin trieb, wo die jungen Kerle auf die Männer warteten. Keine Sucht nach Drogen, nach Alkohol – sondern „Sehnsucht nach Liebe“. So hat er das Buch genannt, in das er seine Geschichte geschrieben hat.
Ein „Feeling“ habe er gesucht, erzählt er heute, wenn er die Lippen aufeinander presst und schnieft und tief durchatmen muss. „Bei den Freiern habe ich mich ernst genommen gefühlt.“ Jörg S. hat dunkelbraunes, schütteres Haar, das in Strähnen auf der Stirn liegt, die Brauen liegen wie Dachbalken über den Augen, immer angespannt. Er weint auch heute nicht, auch wenn er es wieder gelernt hat. Hält es mit Mühe zurück, wenn er vorliest.
„Ich nahm es in Kauf für eine halbe Stunde Geborgenheit“
Der erste Freier ist um die 30. Tänzelt um ihn herum in der Halle vom Bahnhof Zoo, ohne etwas zu sagen. Er spricht osteuropäischen Akzent und trägt gepflegte Kleidung. Bietet ihm erst eine Zigarette an, fragt dann: „Wie viel?“. „50 Mark“, antwortet Jörg.
„Sehr, sehr lieb“ sei der Mann gewesen, erzählt Jörg S. heute und wünscht sich, schon der erste hätte ihn wie Dreck behandelt – damit er nicht erfahren hätte, wo er sich das „Feeling“ abholen konnte.
In der Wohnung des Mannes ziehen sie sich aus. Der Freier gibt ihm einen Zungenkuss. Jörg findet es widerlich. Doch er sagt nichts. Dann muss er seinen Penis in den Mund nehmen.

„Es war kein Leben, es war ein Überlebenskampf“
Wie er damals zum Bahnhof gekommen ist, was ihn dahin getrieben hat, weiß er nicht mehr. Das Stück Erinnerung ist weg, verdrängt, psychologische Stille in seiner Lebensgeschichte.
Still ist er schon als Säugling, der irgendwann weiß, dass ihn die Mama nie wickeln oder stillen wird. Alles macht der Vater, die Mutter liebt ihn nicht, lebt im Nebel von Alkohol. „Es war kein Leben, sondern der Überlebenskampf eines kleinen Sprösslings“, schreibt er in seiner Autobiographie.
Als er drei Jahre alt ist, lassen sich die Eltern scheiden. Er kommt zum Vater nach Steglitz. Seine Schwester und sein Bruder wachsen in verschiedenen Heimen auf, nur er bleibt zuhause.
In der Schule verschluckt er einmal absichtlich einen Bleistift, wird ins Krankenhaus gebracht: „Ich bekam Liebe in Form von Aufmerksamkeit.“
Die einzige, die er liebt, wohnt in einem Heim in Westdeutschland, seine Schwester Birgit. In Briefen bettelt sie den Vater an, sie wieder zurück zu holen. Später wird sie in die Drogensucht abrutschen, sterben.
„Während andere ins Kino gingen, wartete auf mich der Bahnhof“
„Je mehr Freier ich abgefertigt hatte, umso besser wurde ich“, steht im Buch. Nach dem ersten Mann geht es immer wieder zum Bahnhof Zoo. Nie in die Jebensstraße hinter der Bahnhofshalle, wo die Strichjungen im Dutzend stehen, Jörg wartet drinnen zwischen den Reisenden. Er will nicht zu denen da draußen gehören, weil er sich schämt.
Bei seiner dritten Nummer muss er sich auf einen blauen Küchentisch legen und die Beine spreizen. Als es der Mann nicht schafft, in ihn einzudringen, hilft er mit Vaseline nach.
Nie würde Jörg denen, die ihn kaufen, einen Wunsch abschlagen, das traut er sich nicht. Auch wenn er bis obenhin voll mit Ekel ist.
Sein Leben kreist nur noch um die tägliche Portion Zuneigung. Aufstehen, Schule, Essen, Bahnhof. Zuhause badet er, dann spielt er mit Lego. Das Geld hortet er, Drogen und Alkohol lehnt er ab, seine Schwester lebt längst in der Parallelwelt aus Rauschgift. Keiner merkt, was er tut, keiner kann ihm helfen: „Während andere in meiner Altersklasse ins Kino oder baden gingen, wartete das vermeintliche Glück nachmittags am Bahnhof auf mich.“
„Ich hasse meine Freier“
Falten haben sich in sein kantiges Gesicht gegraben. Wenn er erzählt, lacht er hin und wieder, ganz kurz, lässt den Blick kurz durch den Raum huschen, sagt dann plötzlich: „Ja. Ich hasse meine Freier.“
Hasst sie. Das ist schwer verdaulich, wenn man bedenkt, dass er sich den Männern angeboten hat. Doch Kinderprostitution ist und bleibt Missbrauch, wie Lutz Volkwein vom Berliner Verein „Subway“ sagt: „Keiner der Strichjungen in dem Alter prostituiert sich freiwillig.“ Wer Jugendliche für sexuelle Dienstleistungen bezahle, nutze deren Notsituation aus – egal, ob sie Zuneigung oder Geld suchten.
„Subway“ hat Kontakt zu den Jungs auf der Straße. In der Anlaufstelle des Vereins nahe dem Nollendorfplatz können sie essen, reden, ihre Kleidung waschen. Volkwein schätzt, dass heute allein in Berlin jedes Jahr 2.000 bis 3.000 junge Männer ihren Körper verkaufen. Laut einer Studie, die „Subway“ zusammen mit der Freien Universität erstellt hat, soll außerdem jeder vierte Berliner Jugendliche schon „sexuell motiviert angesprochen“ worden sein, jeder zwölfte missbraucht.
„Ich habe das Kind in mir bewahrt“
Nie lernt Jörg S. etwas anderes als Sex mit Männern kennen. Doch beim Verkehr schließt er die Augen, stellt sich ein Mädchen vor. Mit 16 macht er sich endlich auf die Suche nach einer Freundin. Er gibt eine Anzeige in einem Jugendmagazin auf. Ein Mädchen aus Pforzheim antwortet, Daniela, ein Jahr jünger als er. Sie schreiben sich, und irgendwann fährt er die mehr als 600 Kilometer mit dem Zug zu ihr – „das Geld hatte ich ja, vom Bahnhof.“
In Pforzheim verlieben sie sich. Beim ersten Blick. Mit einem Schlag ist er raus aus der Bahnhofswelt. Endlich. Doch das Trauma hält ihn gefangen. Als die drogensüchtige Schwester kurze Zeit später stirbt, beginnt er eine Psychotherapie. Er ist bis heute in Behandlung, gilt als arbeitsunfähig. Auch Sexualität gibt es für ihn nicht mehr.
Jörg S. hat sich andere Sachen gesucht, die ihn stark machen. Seine heutige Freundin zum Beispiel, das Ende seiner Suche, besser: seiner Jagd nach Liebe. Eins ist ihm geblieben: „Ich habe das Kind in mir bewahrt“, sagt er, „zwar ein verletztes, aber ein Kind.“